Die Wikinger
Die Bezeichnung Wikinger steht für eine Tätigkeit, nicht für ein Volk.

Vom 8. bis ins 11.
Jahrhundert hielten die Wikinger die Welt in Atem. Auf der Suche nach Land
oder weil sie ausgestoßen wurden, verließen sie als Krieger und Entdecker
ihre Heimat. Von Norwegen, Schweden und Dänemark aus fielen sie über ganz
Europa her. Wie aus dem Nichts tauchten ihre Drachenschiffe auf und ebenso
schnell verschwanden sie wieder. Als Eröffnungsfanfare des Wikingerzeitalter
gilt der Überfall am 8. Juni 793 auf das Kloster Lindisfarne, auf der
gleichnamigen Insel vor der nordöstlichen Küste Northumbrien gelegen ( heute
Holy Island ). Allgemein endet die Wikingerzeit 1066 mit der Schlacht von
Hastings, nach der sich England abkehrt von der nordischen Welt, der es
bisher angehört hatte.
Allerdings: Der erste schriftlich
bezeugte Wikingerüberfall wird in der Historia Francorum ,von Gregor von
Tours, benannt. Der dänische König Chlochilaichum überfiel im Jahre 517 mit
einer Flotte Gallien. .Er verwüstete und beraubte das Gebiet des
Frankenkönigs Theudoricus und nahm etliche Gefangene. Die Flotte stach in
See, der König blieb jedoch am Strand und musste auf die Flut warten. So
konnte Theudoricus, Sohn Theudobertus, der mit einem starken Heer und Flotte
anrückte, den König töten, die Dänen in einem Seegefecht besiegen und die
Beute wieder zurückholen.
Das Leben, das die Skandinavier in ihrer
kalten Heimat führten, wurde bestimmt durch Ackerbau, ( Roggen, Hafer,
Gerste und Gemüse ), Viehzucht ( Schafe, Rinder,Ziegen ), Fischer ( Dorsch,
Lachs, Forelle ) und Jäger ( Ren, Elch, Rotwild, Kaninchen, Bären ), denn,
die Skandinavier waren nicht nur plündernde und raubende Seeräuber
(Wikinger) sondern auch kluge Händler, geschickte Seefahrer, ausgezeichnete
Handwerker und Schiffsbauer. Sie handelten mit Waren bis nach Bagdad und
kamen auf ihrer Landsuche sogar bis nach Amerika. Der Anteil der
Skandinavier, welche sich als Wikinger betätigte, ist gegenüber der
Gesamtbevölkerungsmenge des damaligen Skandinaviens eher gering
einzuschätzen. Nur die wenigsten Nordländer waren Wikinger. Die meisten
waren in der Tat, Bauern, Fischer, Jäger, Handwerker und Händler.
Lange Zeit war es
nicht möglich, ein differenziertes Bild der Wikingerzeit zu zeichnen, weil
ein Mythos davor stand, ein Bild, das sich frühere Zeiten von den Wikingern
gemacht haben und das sich bis heute gehalten hat: Als Met saufende Gesellen
mit Hörnerhelmen, die übers Meer brausen und Tod und Teufel nicht fürchten,
als ein wildes, ungezähmtes Geschlecht, das barbarische Bräuche übt und
bürgerliche Sicherheiten verhöhnt, geistern die Wikinger noch immer durch
Filme und Romane. Die ersten Versatzstücke zum Wikingermythos stammen schon
von den Zeitgenossen. Die Geistlichen, die in den Klöstern Westeuropas ihre
Chroniken verfaßten, machten sich wenig Mühe, zu ergründen, was es mit den
Nordleuten auf sich habe; sie erscheinen stets als Würger und Bestien, und
selbst wenn einer genauer hinsieht, wie Adam von Bremen, ist doch sein Blick
(auf die religiösen Bräuche der heidnischen Wikinger etwa) durch den eigenen
christlichen Glauben verzerrt. Distanzierter und neutraler sind die Berichte
der arabischen Reisenden, aber auch sie können die Prägung durch die eigene
Kultur nicht verleugnen. Am nachhaltigsten wurde der Mythos von den
Nachfahren der Wikinger selbst in einem Prozeß der Rückbesinnung und
Selbststilisierung geformt. Die Literatur, die im 12. und 13. Jahrhundert
vor allem auf Island entstand, malt ein glorreiches Bild der Vergangenheit.
Fakten und Fiktionen sind untrennbar vermischt. Ein moderner Forscher, Lars
Lönnroth, vergleicht diese Art, Legenden zu verstricken, mit dem
amerikanischen Western, bei dem auch jeder Held von einem Gespinst von
Fabeln umgeben ist. Die Geschichtsschreibung dieser Zeit, etwa die Werke von
Saxo Grammaticus oder Snorri Sturluson, wurde in den folgenden Jahrhunderten
in jedem Punkt für bare Münze genommen. Schwedischen und dänischen
Altertumskennern des 16. und 17. Jahrhunderts dienten sie zur Untermauerung
ihrer Thesen von der geschichtlichen Würde ihrer jeweiligen Staaten und zur
Begründung von deren Großmachtansprüchen. Nachdem das Zeitalter der
Aufklärung für einige Ernüchterung gesorgt hatte, erfuhr die
Wikinger-Liebhaberei am Ende des 18. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung. Es
war die Zeit, da auf dem europäischen Kontinent, vor allem in England, die
alte Volksdichtung entdeckt wurde und schottische Balladen aus dem frühen
Mittelalter in aller Munde waren – je wilder und archaischer, desto besser.
Die gleiche ursprüngliche Art des Dichtens und Denkens meinte man danach
auch in der angeblich aus Urzeiten stammenden Poesie der "Edda", der
Skaldendichtung und der Sagas wiederzufinden: eine Kultur "in vollkommendem
Einklang mit der Natur und der Volksseele" (L.Lönnroth). Die bis dahin eher
philosophisch-ästhetisch geprägte Romantik in Skandinavien bekam im 19.
Jahrhundert nationalistische Untertöne. Die Verfassung der Frühzeit, mit dem
freien, selbstbewussten Bauerntum als Grundlage, sollte wiederbelebt werden
und mit ihr der "Wikingergeist", worunter das wilde Abenteurertum zu See
genauso verstanden wurde wie das zähe Ausharren auf der Scholle. Die
Dichtungen Erik Gustaf Geijers (1783-1847) und des Bischofs Esaias Tegnér
(1782-1846), beide Mitglieder im "Götiska förbundet", einer Vereinigung
schwedischer Wikingerfreunde, liefern dazu die besten Beispiele.
Auch die
Volkshochschulbewegung, die der Däne Nicolai Frederik Severin Grundtvig
(1783-1872) ins Leben rief, stellte das "lebendige Wort" der mündlichen
Überlieferungen aus der Wikingerzeit gegen die tote Gelehrsamkeit der
traditionellen akademischen Bildung. Grundtvigs Ideen kamen nicht nur bei
den Intellektuellen an, sondern stießen auch beim Bauerntum und den Teilen
des liberalen städtischen Bürgertums auf Zustimmung. Es wurde in der 2.
Hälfte des 19. Jahrhunderts Mode, Kostümbälle in Wikingertracht zu
organisieren und Wohnungen im Wikingerstil (was immer man dafür hielt)
einzurichten. Künstler malten Wikingerszenen, Politiker versuchten, auf
Wahlveranstaltungen wie Wikingerhäuptlinge zu reden, und die Wirtschaft
verwendete die Namen altnordischer Götter und Helden für ihre Produkte. In
Norwegen, auf Island und den Färöern besann man sich darauf, daß in der
provinziellen Kultur noch echte Wesenszüge der altnordischen Epoche erhalten
waren. Passend dazu erfolgten 1880 bzw. 1904 die Ausgrabungen der Schiffe
von Gokstad und Oseberg, die nun auch materielles Zeugnis für eine
glorreiche Wikinger-Vergangenheit ablegen konnten.
Einen besonderen
Stellenwert hatte das wikingische Erbe unter den Skandinaviern, die im 19.
Jahrhundert nach Amerika auswanderten. Ihre Ansiedlung in der Neuen Welt
erschien ihnen wie eine Wiederholung früherer Landnahmen auf Island oder gar
in Amerika selbst, dem Vinland, das Leif Eriksson einst entdeckt hatte. In
Deutschland nahm die Wikingerverehrung einen eigenen Weg. Richard Wagner
brachte mit seinem Musikdramenzyklus "Der Ring des Nibelungen" (1869-1876)
die ganze altnordische Götter- und Heldenwelt auf die Bühne, gedeutet im
Licht spätromantischer Philosophie. Wagnerische Mystik, Friedrich Nietzsches
Lehre vom Übermenschen, imperialistischer Ehrgeiz des neuen deutschen
Reiches und krause Rassetheorien gingen eine gefährliche Mischung ein, an
deren Ende die wahnhafte Idee einer Überlegenheit der nordischen Rasse
stand, wie sie Heinrich Himmler und andere Ideologen des Nationalsozialismus
vertraten. Die Wikinger galten nun als Kühne Eroberer, die sich zu Recht die
Welt untertan machten, und die Deutschen nebst anderen "Germanen", soweit
sie sich anzuschließen wünschten, als legitime Nachfolger.
Als im zweiten
Weltkrieg europäische Freiwillige für den Kampf gegen Bolschewismus in der
Waffen-SS geworben wurden, gab man der Division, in der hauptsächlich
Norweger dienten, dann auch den Namen "Wiking". Nach 1945 war mit der
Nazivariante des Wikingermythos vorerst Schluß, und auch sonst ließ in der
Welt die Begeisterung für wikingisches Wesen nach, um ernsthafter Forschung
Platz zu machen. Heute ist, abgesehen von neonazistischen Kreisen, in denen
noch (oder wieder) germanische Blut-und-Boden-Mystik zirkuliert und mit
martialischen Wikingerassessoires gehandelt wird (es gab da, bis sie
verboten wurden, auch eine "Wikinger-Jugend"), der Wikinger eine harmlose
Folklorefigur – allerdings in massenhafter Verbreitung. Überall gab es
Wikingermessen und Wikingerfestivals, bei denen der Met in Strömen fließt.
Kein Hafenplatz an der Ost- oder Nordsee, der nicht behauptet, eine
Wikingervergangenheit zu haben. Historische Parks sind eingerichtet, in
denen Lebenssituationen der Wikingerzeit präsentiert sind, und gerne werden
von Tausenden von Enthusiasten die großen Schlachten von Maldon, Stamford
Bridge oder Stiklestad nachgestellt...